Alte Kanonen / Fragen

Begonnen von Gun Bucket, 02. November 2018, 11:56:44

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Gun Bucket

Hallo zusammen,
hoffe, ich bin in der richtigen Sparte - ansonsten bitte verschieben ...
Kann mir jemand von Euch sagen, was diese Eisenstangen für eine Funktion haben, wie sie heißen (Fachbegriff) und warum sie seit dem 18. Jh. nicht mehr an den Kanonen zu sehen sind ? Ich tippe auf eine Art Rückstoßsperre, bin mir allerdings nicht sicher ...

Besten Dank schon einmal.
Gruß, Gareth


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Kartaune

Hier noch ein paar weitere Beispiele:


Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Cannon

Hans

Die hinteren Räder von alten Wagen, Leiterwagen sind auch sehr oft so abgefangen, gegen den Wagenbaum oder noch öfter gegen den Aufbau. Da rätsel ich auch schon ewig rum, weshalb.
Ceterum censeo: Die Lackierung ist wichtiger

Ostwind

Hallo also mit Rückstossperre  oder Rohrrücklauf hat das nichts zu tun sowas gab es damals noch nicht.

Vielleicht eine Schutz für die Bedienung nicht in die nähe des Rades zu geraden beim Schuss, die Dinger rollten sehr weit nach hinten.

Außerdem konnten so viel Hände zupacken um die Kanone zu bewegen.

Wenn man die Kanonen verkeilt konnten sie sich aufbäumen und umkippen, deshalb wurde das nie gemacht die Bedienung musst die Kanonen nach dem Schuss wieder zurück rollen.

MfG Ostwind

Maesi

Also ich kann mich dunkel an den Begriff "Stangenreuter" erinnern,  eventuell dienten diese Stangen oder auch Ketten zum Richten der Kanone. Ich muss da mal schauen, irgendwo hab ich da noch ein Buch liegen ...

M. :winken:

Gun Bucket

Vielen Dank für Eure Rückmeldungen  :P

Hans: Manchmanl wurden Haken am Ende der Achse angebracht um die Karre buchstäblich aus dem Dreck zu ziehen.

Ostwind: Die Vermutung hatte ich auch zuerst – deswegen schrieb ich, ich wäre nicht sicher ... Vielleicht gehen unsere Gedanken in diese Richtung:


Quelle: https://www.worthpoint.com/worthopedia/pocher-cannon-16th-century-culverin-269003237

... was ja auch der Ausrichtung der Kanone dienen würde.
Die Stangen waren damals abbaubar, was mich zur nächsten Theorie bringt: vielleicht dienten sie dem Transport. Das Eigengewicht dieser alten Kanonen war nicht unerheblich (was den eigentlichen Rückstoß verringern würde) und beim Transport bergab wären diese in der Lage gewesen, die Pferde zu überrollen. Ergo hat man diese Stangen vielleicht angebracht um die Räder quasi in "Schlitten" zu verwandeln. Dadurch wären sie auch besser zu kontrolieren gewesen.

Maesi: Auch das würde logisch erscheinen. Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen oder wurde irgendwie aus unser aller Theorien geschmiedet   ;) Bin gespannt, ob Du noch etwas darüber findest.

Gruß Gareth

Steffen

Noch ein Punkt zum Nachdenken ; Stabilisierung der Radachse während des Marsches ? Man bedenke die Zustand der Straßen. Und der Fixpunkt der Achse ist ziemlich mittig. Wenn die Achsen an den Enden noch einmal gestützt werden, dann wird das ganze Gefährt spürbar stabiler.

Hätte Gott gewollt dass ich Grünzeug fresse, wär' ich ein Kaninchen !

Hans

Ich hab mal nachgefragt, was das bei den von mir erwähnten Wagen für eine Funktion hat: Dort wird bei Schwerlast die Konstruktion gestützt. Dies bringt mich zur Meinung, das Steffens Hinweis der richtige ist. Das Geschütz wird ja "hinten" geschleppt, die Zugrichtung ist entgegen der Schussrichtung. Das zerrt an den Achsen und bei Widerstand an einem oder beiden Rädern kann man da durchaus die Achse rausreissen. Das Abfangen der Achse in der Zugrichtung würde das alles stabilisieren.

Eine Sperre der Räder gegen Rückstoss scheint es mir nicht zu sein.
Ceterum censeo: Die Lackierung ist wichtiger

Gun Bucket

@Maesi: Hab' noch einmal nachgelesen ... Der Begriff Stangenreuter (Stangenreiter?) war wohl die Bezeichnung für einen berittenen Artillerist gewesen.

@Steffen: Scheint auch plausibel ... Stutzig macht mich hierbei nur, daß die Verbindung an den Stangen doch recht locker, mittels Ösen & Pinne zusammengehalten wurde. Richtigen Halt hätte man dadurch wohl nicht. Vielleicht war das aber auch nur eine vorrübergehende Lösung – würde auch erklären, warum diese Halterung später nicht mehr verwendet wurde.

@Hans: Von einer Art Rückstoßsperre bin ich noch nicht ganz ab. In Filmszenen od. Reenactment Aufführungen sieht man nach dem abfeuern mit Platzgeschossen nur einen entsprechend leichten Rückstoß. Beachtlicher wäre dieser wohl mit echten Geschossen. Die Eigenschaft, nach dem Abschuss zu springen löste auch oft die Verankerungen. Da sie zudem häufig auf einer Anhöhe (Hügel) in Position gebracht wurden, bestand noch die Gefahr, daß sie nach hinten wegrollten. Wären diese Stangen also am Rad befestigt, würde das den Rückstoß zwar nicht verhindern aber zumindestens die chaotische Rückwärtsfahrt (loose cannon) abbremsen.
Sehr zur Freude der Reservetruppen  ;)

Gruß Gareth

Steffen

In Feuerstellung dienten die Stangen zum stabilisieren der Radachse, da bin ich mir sicher. (Auch heutige 5ton Anhänger aus der Landwirtschaft kenne ich mit solchen Verstebungen unter der Ladefläche zwischen Hinterachse und Rahmen.)
Ja, die Stangen sind mehrgliederig und scheinen beweglich zu sein. Dumm war man damals auch nicht. An der historischen Kanone könnte die gegliederte Stange eine Doppelfunktion haben. Neben der Versteifung in Marsch wäre auch vorstellbar die Stangen in Gefechtstellung per Erdsporn im Boden zu fixieren. Das würde die bewegliche Kunstruktion der Stangen erklären.

Spätere Kanonen waren nicht mehr so schwer und nutzten Patronen-Munition. Also Treibladung und Geschoß in einer Hülse. Man denke da bspw. an die Kanonen des amerikanischen Bürgerkrieges bzw. um 19-hundert. Diese moderneren Geschütze waren leichter aber dennoch leistungsfähiger als ihre Vorgänger.


Bildquelle : wikipedia.org

Hätte Gott gewollt dass ich Grünzeug fresse, wär' ich ein Kaninchen !

Hans

Naja, mehr Bumm macht auch mehr Rückstoß und grad die leichtere Kanone springt dann erst recht. Eine stabilere Konstruktion Rad/Achse/Lafette plus diesmal macht leicht einen Sinn - weniger Gewicht, erübrigt auch die "Versteifung" beim "Rückwärtsfahren".
Ceterum censeo: Die Lackierung ist wichtiger

Maesi

Zitat von: Gun Bucket in 03. November 2018, 13:33:38
@Maesi: Hab' noch einmal nachgelesen ... Der Begriff Stangenreuter (Stangenreiter?) war wohl die Bezeichnung für einen berittenen Artillerist gewesen.
... äh, ok. Hab das in Frage kommende Buch leider noch immer nicht entdeckt, eventuell war's auch nur ein Bericht im Netz. Ich bleib aber dran am Thema.

M. :winken:

Uwe K.

Habe schon gesehen, dass solche Konstruktionen dazu benutzt wurden um beim Transport
auf abschüssigem Gelände Stangen durch die Räder zu stecken, um diese zu blockieren.
Man lies das Gefährt dann quasi den Hügel hinab rutschen.
Ob das ein hauptsächlicher Grund war, oder nur ein willkommener Nebeneffekt weis ich aber
auch nicht.

Ostwind

Hallo, solche dünnen Eisenstangen würden sich bei der Aktion verbiegen.

MfG Ostwind

JWintjes

Diese Stangen - die sich beileibe nicht bei allen Stücken der Zeit finden - scheinen mir auch am ehestern mit der Achse in Verbindung zu bringen sein, selbst dafür sehen sie allerdings ziemlich mickrig aus. Wenn überhaupt, hat das dann was mit dem Zug des Geschützes zu tun, ganz interessant finde ich, daß es das offenbar nur an schwereren Geschützen gegeben hat. Denkbar ist auch, daß es auf dem Marsch schlicht ein Schutz sein soll, der verhindert, daß man zu nahe vor dem Rad herumläuft.

Der Stangenreiter ist der Reiter auf dem Stangenpferd bzw. den Stangenpferden. Das sind die Pferde unmittelbar vor dem Wagen, bei sechsspännigem Zug einer Lafette (2-2-2) also der hinterste der drei Reiter im Zug.

Eine wie immer geartete Abfederung des Rücklaufs der Lafette beim Abfeuern ist völlig abwegig, wenn man sich mal vor Augen führt, um was für Gewichte und Energien es hier geht.

Hollywood ist generell meist ein schlechter Ratgeber, was die Verwendung von militärischem Gerät angeht, das älter ist als 50 Jahre, und Reenacter verschießen selten volle Ladungen, weil das einerseits teuer und andererseits gefährlich ist.

Auf youtube finden sich ab und an Videos von - leicht verrückten... - Amerikanern, die tatsächlich mit "echter" Ladung schießen; eine 12-Pfünder aus dem Bürgerkrieg hüpft gerne mal 2-3m nach hinten, je nach Gelände (lehrreich ist das unter anderem, weil man begreift, daß es für eine gute Positionierung der Batterie nicht geringes Geschick braucht).

Daß Geschütze im Laufe der Zeit generell kleiner und/oder leichter werden, dürfte ein urbaner Mythos sein - eine der primären Anforderungen an ein Geschütz der Fußartillerie war über zwei Jahrhunderte hinweg, daß man das Geschütz händisch einigermaßen gut bewegen können muß, während das Geschütz der berittenen Artillerie noch etwas leichter sein sollte, um schnelles Auf- und Abprotzen zu garantieren. Der technologische Fortschritt hat dann bis zum Ende des 19. Jh. die Leistungsfähigkeit der Waffen dramatisch gesteigert, aber an Maßen und Gewichten nicht grundlegend etwas geändert.

Patronenmunition findet sich in artilleristischer Verwendung erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.; Geschütze wie die abgebildeten Parrots waren Vorderlader und nutzten normale Kartuschenladungen.

Jorit

Gun Bucket

@Steffen: Dein Bild vom 30 pounder Parrot Rifle zeigt nicht, daß es eine starre Befestigung hat. Ich denke so etwas würde der Achse erst recht Schaden zufügen, falls Ankerung und Verbindung nicht zuerst brechen. Was allerdings zu sehen ist, ist noch ein Art von "passiver" Rückstoßbremse. Merke die leicht angeneigte Plattform welche es "erlaubt" der Kanone nach hinten zu rollen um dann wieder unter seinem Eigengewicht zurück in Position zu laufen. Diese Art "Bremse" war auch in Gebrauch während der Belagerungsschlachten Mitte des 16. Jhd.

Es geht hier aber nur um diese Stangen. Die scheinen nur an manchen Kanonen (zwischen ca.1550 – 1660) zusehen zu sein, und auch nur an Kanonen mit einer festen Achse. Mir scheint es im Moment als fände man sie überwiegend unter der Begriff: Landsknecht Artillerie.
Da sie  nur aus leichten Eisenstangen angefertigt wurden, kann ich mir nicht vorstellen, daß sie der Verstärkung der massiven Achse dienten. Eine dicke Eisenstange, diagonal an der Innenseite des Rad's und am Seitenaufbau angebracht, würde hier viel mehr zu sagen haben.
Fakt ist, daß die Kanonen (ab 1660) Befestigungen/Ketten an dieser Stelle haben, welche der Radblockierung dienen. Das, wie ich vorab erwähnte, ist notwendig beim Bergabtransport.
Dieses bringt mich zu der momentanen Theorie, das wir es hier viel.  mit einer frühen Form des Differentialgetriebes zu tun haben könnten. Eine Achsenstange wird abmontiert und auf die Radfelge fixiert. Dieses Rad wurde dann gesperrt während das andere sich  frei drehte. Das ermöglicht eine scharfe Wendung in Engpässen (z.B. um Bäume od. Straßenecken), bessere Kontrolle bergab und ein schnelleres drehen in die Schussposition.
Ich möchte an dieser Stelle noch erwähnen, daß ich noch niemals so eine frustrierende Themenrecherche in meinem Leben erlebt habe. Nach der ewigen Suche durch diverses Bücher und dem Internet (wo man mit  Info's über Kaliber, Taktik, Gewicht etc. überschüttet wird) habe ich immer noch nichts Konkretes gefunden was eine ausführliche Erklärung für diesen leichten Mechanismus abliefert. Trotz div. Theorien von allen Seiten, stößt man immer nur auf Vermutungen.
Was die Sache noch schlimmer macht, ist das viele Experten und Museen für alte Artillerie, Sätze benutzen wie: "Hier sind Eisenbeschläge angebracht" oder "ein sehr schönes Model mit Eisenrahmen" und sobald man auf etwas Genaueres stößt, wird man kalt abserviert mit Worten wie: "womöglich, vielleicht od. könnte sein".
Ich weiß, daß es einfacher ist eine Frage über 'nen Sherman III oder Leopard II zu stellen, aber dieses eine Detail mußte einem Interessierten doch über die Jahrzehnte ins Auge springen und ihn zwingen,  nach dem "wofür genau?" zu fragen ... Vielleicht ist es aber eine Frage, welche die Renaissance nur allzu ungern beantwortet  ;)

@Jorit: (hab's gerade erst gelesen) Danke für Deine Ausführungen. Wie Du sicherlich weißt, ist die Welt der Artillerie ein enormes Thema (sogar mit eigener Sprache) ... allerdings möchte ich mich bei meiner Frage nur auf die Artillerie der Renaissance konzentrieren. Der wahre technologische Fortschritt zwischen 1550 & 1850 lag in der Verbesserung der Karosserien, dem Kanonenguß und der Pulvermischung. Eine Kanonenkugel von 1850 war wohl kaum effektiver als eine von 300 Jahre davor. Erst ab 1860 gings bzgl. Feuerkraft richtig zur Sache.

Ein herzliches Dankeschön an diejenigen, die versucht haben, eine "bombenfeste" Lösung für dieses Problem zu finden. Das gleiche gilt übrigens auch für die stillen Rätselrater unter Euch  :P

Es grüßt: "Sleepless in Rheinland",
Gareth

PS Sorry, aber die deutsche Sprache macht meine Ausführungen irgendwie komplizierter & viel lääääänger  8o